Teilnehmen wollte ich
an einem Seminar zum Thema "Die Kunst des Sterbens",
veranstaltet in München von einem "Zentrum
für angewandtes Ganzheitstraining", abgekürzt
"zagt". Daraus wurde nichts.
Statt dessen lud mich
ein frisch gegründetes "ZENTRUM FÜR ALTER-NATIVE
GANZHEITS-THERAPIE", abgekürzt "ZAGT",
zur seminaristischen Behandlung menschlichen Ablebens
in die St.-Jakobs-Mühle nahe Viechtach im Bayerischen
Wald.
Beide Male hieß
der Einladende Franz Susman, war Doktor der Philosophie
und hatte es nach dreizehnjährigem Studium auch
der Fächer Theologie und Geschichte dahin gebracht,
daß er sich nun, da er fünfzig ist, berechtigt
fühlen dürfte, den Sinn irdischen Seins und
Verlöschens aus einer laut Werbeprospekt "großen
kosmobiologischen Schau" zu erläutern.
Mögen die Gründe
für die Umbenennung des Trainingsvereins auch im
dunkeln liegen, hinsichtlich des Wechsels der Trainingsstätte
erübrigen sich Zweifel: Ein Aufnahme-Team des Österreichischen
Fernsehens hatte sich bei zagt, fortan ZAGT, angesagt,
in der erklärten Absicht, das zweitägige Sterbeseminar
(Lehrgeld je Teilnehmer 150 Mark) für die ORF-Reihe
"Horizonte" in Bild und Ton festzuhalten.
Und der Bayerische Wald, wo Susman seit längerem
heilsam wirkt, liegt nun einmal näher bei Wien
als die bayrische Hauptstadt.
Die da angetreten sind,
um sich von Franz ihre Angst vor dem Tode "abbauen"
zu lassen, stattliche 14 an der Zahl, nennen einander
beflissen beim Vornamen. Die Damen heißen Agnes,
Brigitte, Heidi, Helma, Ingrid, Monika, Nortrud und
Ursula, die Herren Alois, Bernd, Martin, Peter, Richard
und Wolfgang. Bald jedoch wird deutlich, daß sich
unter den Seminaristen nur ein abnorm Todesängstlicher
befindet, nämlich ·Bernd, ein Verkäufer
aus Nürnberg.
Seine Angst steht im
Zusammenhang mit einer kurz zurückliegenden Gehirn-Operation.
Aller übrigen Hiersein hat andere Gründe.
Brigitte ist ihrem Freund Bernd zuliebe mitgekommen,
unter Heidi und Martin firmieren der Chronist und seine
Begleiterin, der Rest beherzigt das Motto: Wenn, egal
woher, das Fernsehen anrückt, müssen die Esoteriker
Ober- und Niederbayerns zusammenstehen wie ein Mann!
(Monikas Pflichtgefühl ist so immens, daß
nicht einmal ein am Vortag gebrochenes und daher frisch
geschientes Nasenbein sie am Herbeieilen hindern konnte.)
Manche pflegen den Umgang
mit dem Rätselhaften beruflich. Alois, ein samtäugiger,
bajuwarisierter Perser, treibt in München Metaphysisch-Pädagogisches,
desgleichen Monika, Nortrud und Ursula; Peter, dürr,
blond strähnig, mit verschmitzten Brillengläsern,
hält ebendort Yogakurse ab.
Die verbleibenden fünf
sind St.-Jakob-Stammkunden: Wolfgang, ein heimlicher
Kleriker aus Regensburg, der immer zu einem Lächeln
aufgelegte Richard, Helma, die redefrohe Theosophin,
Ex-Krankenschwester Ingrid und schließlich Agnes,
die scheue Schauspielerin im Ballerinentrikot.
Bei soviel televisionärem
Eifer nimmt es kaum wunder, daß nicht Franz, sondern
das ORF-Team den Ablauf des Geschehens bestimmt: Nach
zwei lustlosen Trabrunden ums Haus ("Waldlauf")
geht es hinauf in den Trainingsraum, wo Wolldecken und
weiß-blau karierte Kissen den Neuling hoffen lassen,
daß er die rechte Sterbeweise zumindest in bequemer
Körperhaltung erlernen wird.
Richtig: Wenige Worte
der Anleitung genügen, und wir haben, Scheitel
an Scheitel auf dem Rücken liegend, einen vierzehnzackigen
Stern gebildet. "So, und nun ballt eure Hände
zu Fäusten, ganz fest, bis es schmerzt, spannt
dabei den ganzen Körper an (der Stern bricht in
vielkehliges Ächzen aus) -- so, und jetzt langsam
entspa-nen und dabei gääh-nen!" (Der
Stern gehorcht hörbar.)
Wir erfahren: Solche
soeben erzielte "Tiefentspannung" sei zur
Vertreibung lästiger Ängste dringend erforderlich,
und Entspannung könne nur eintreten, wenn zuvor,
aus welchem Grund auch immer, Spannung geherrscht habe.
Ich pflichte Franz innerlich bei und überlege,
daß ein kräftiger Hammerschlag auf den Daumen
die Angst vor dem Sterben kurzfristig noch mehr mindern
müßte, da will das ORE schon die nächste
Nummer drehen.
Sie heißt "Todesvorstellungen
zu zweit" und verlangt, daß sich jeder Teilnehmer
einen Gesprächspartner wählt (oder sich von
einem wählen läßt) und mit ihm sämtliche
17 Punkte eines Fragebogens erörtert. Beispiele:
"Wann erlebte ich den Tod zum erstenmal?",
"Welchen Tod würde ich mir nicht wünschen?",
"Ist das Sterben etwas Gutes oder etwas Schlechtes?".
vorn: Seminarleiter
Susman.
oder auch: "Ist
das Weltall noch von anderen Lebewesen bewohnt?"
Dabei gilt folgendes
Reglement: Jeder spricht zum anderen eine halbe Stunde.
Während der eine spricht, muß der andere
ruhig zuhören, wobei sich beide starr und verständnisinnig
ins Auge blicken.
Dank dem durch das Fernsehen
bewirkten Zeitdruck wird der halbstündige Monolog
eines jeden um zehn Minuten ermäßigt. Ich
habe obendrein das Glück, daß gerade Helma
mich zu ihrem Partner kürt. Ihr theosophischer
Redefluß überschwemmt mühelos auch meine
zwanzig Minuten.
Danach wird im "Plenum"
abgefragt, was die Zwiegespräche denn so ergeben
haben. Dabei stellt sich heraus, daß sowohl für
Monika und Nortrud als auch für Alois und Peter
der Vorgang des Dahinscheidens nicht der Rede, geschweige
eines Seminars wert ist. Alle vier sind schon auf die
eine oder andere Weise tot gewesen.
Monika, die sich schon
beim Akt ihrer Zeugung "mit Händen und Füßen"
gegen das Geborenwerden gesträubt hat, war als
Zwölfjährige während eines chirurgischen
Eingriffs in einen "blühenden Garten mit spielenden
Kindern" entrückt worden, und eines dieser
Kinder hatte sie nach dem Erwachen aus der Narkose noch
ein halbes Jahr begleitet, als für andere unsichtbarer
"Freund Harvey".
Nortrud, die sich gleichfalls
an vorgeburtliches Geschehen erinnert, etwa an einen
Bombenangriff, den sie in Mutters Uterus erleben mußte,
sah anläßlich einer Atem-Meditation ihr Leben
"wie in einem Spiegel" Revue passieren. "Wiedergeburt
im Fleische" kommentiert Peter der Yogi sachkundig,
denn er "reist schon länger auf diesem Trip",
ja, ist in der bemerkenswerten Lage, jenes "Über-sich-selbst-Schweben",
das er "mystischen Tod" nennt, beliebig oft
herbeizuführen.
Auch der samtäugige
Alois muß an irgendeiner Stelle nicht ganz dicht
sein. Nacht für Nacht findet sein Astralleib einen
Durchschlupf, um sich mit den ätherischen Zweitkörpern
seiner beiden Brüder zu treffen, kehrt jedoch pünktlich
zum Wecken in seine sterbliche Hülle zurück.
Nun folgt eine Übung,
genannt "Jakobsleiter", auf die Franz Susman
besonders große Stücke hält, weil sie
so kompliziert ist, daß er sie nur mit Hilfe eines
Meisters im Schachspiel ertüfteln konnte. Sie soll
den Sterbelehrling in der Fertigkeit unterweisen, "den
Augenblick intensiv zu nützen, dann aber, auch
wenn es schwerfällt, sich voneinander zu trennen".
Wir bilden nebeneinander
stehend zwei Reihen, und jeder lächelt sein Gegenüber
liebreich an, wobei einer mit des anderen Nase tändelt:
"Monika!" -- "Gefällt dir dein Name?"
-- "Wie schön du Richard sagst!" Das
geschieht so lange, bis Franz, der diesmal mit von der
Partie ist, das Zeichen zum "Abschiednehmen"
gibt.
Daraufhin macht jeder
linksum, läßt das benachbarte Visavis rechts
liegen und wendet sich dem dritten zu, liebt, esoterisch
gesagt, nicht den Nächsten, sondern erst den Übernächsten.
Auf diese Weise begegnet jeder jedem, so oft, bis auch
das letzte Lächeln steifgefroren ist.
Um zu veranschaulichen,
daß Sterbende es schätzen, gestreichelt zu
werden, legt sich Franz die gesundheitsstrotzende Ingrid
bequem zurecht und erweist ihr, während er die
übrigen davor warnt, den beim Streicheln entstehenden
"Pranastrom" zu unterbrechen ("Eine Hand
muß immer draufbleiben"), mit geübten
Fingern Gutes an Schultern und Brustansatz.
Nach seiner Ankündigung,
daß nun zwecks Erlernung solch praktischer Sterbehilfe
sowie zur Überwindung der eigenen "Berührungsangst"
reihum liebkost werde, und dies gleichsam in aller österreichischen
Öffentlichkeit, erinnern sich vier, darunter Bernd
und Brigitte aus Nürnberg, der späten Stunde
und wünschen eine gute Nacht.
Am nächsten Morgen
fehlt das Nürnberger Paar. Dafür ist mit dem
Frühzug aus München eine Hedwig angereist,
die von niemandem im Trainingsraum Notiz nimmt, es sei
denn, er sähe so aus, als wüßte er mit
Kamera oder Mikrophon umzugehen. Doch der ORF-Trupp,
stets nach Neuem begierig, ist gerade dabei, sich im
Erdgeschoß zu etablieren.
Der Mangel an elektronischer
Aufnahmebereitschaft wirkt sich auch auf Franz aus,
der sein Referat über die Bedeutung von Sonne,
Sauberkeit und richtiger Ernährung kunstvoll durch
ein häufig wiederkehrendes "Aber das würde
zu weit führen" verknappt.
Immerhin lernen die
Anwesenden anhand von so seriösen Gewährsleuten
wie dem "Astrologen Newton" oder dem "Dramaturgen
Aischylos", daß der Mensch mit Leichtigkeit
achthundert Jahre alt werden kann. Er muß nur
"Frischkost" knabbern, sich "damit anfreunden,
in einem Sonnensystem zu leben", auf seine Nebenhöhlen
achten ("ein verschleimtes Gehirn kann nicht kreativ
sein") und positiv denken ("negative Gedanken
einfach wegschieben").
Mein Einwand, daß
sich das Problem der Vergänglichkeit allen Fleisches,
welches zu bewältigen man hier sei, nach achthundert
Lebensjahren genauso stellen würde wie nach zwanzig,
prallt auf ein: "Wir können das verbal nicht
lösen." Wie ja überhaupt Franz, und nicht
nur des drängenden Fernsehens wegen, mit Antworten
geizt; denn würde er all sein kosmobiologisches
Wissen preisgeben, stünde er, glaubt er, "bald
auf dem Scheiterhaufen der Dummen".
Bevor in mir der Verdacht
aufkommen kann, Franz Susmans Sterbeseminar sei ein
uralter Hut, der mit wenigen Kniffen in eine modisch
erscheinende Fasson gebracht wurde, befiehlt man uns
in die Wohnstube. Dort ist schon alles für den
Höhepunkt der Tagung vorbereitet, den offenbar
jene dazugekommene Hedwig zuwegebringen soll.
Hedwig, entgegen dem
Augenschein zu "Hedi" verniedlicht, zeigt
sich im Umgang mit dem Medium Fernsehen merkwürdig
bewandert. Sie kennt ihr vergleichsweise günstigeres
Profil, fragt branchenkundig, wie viele Minuten ihre
Darbietung dauern soll, bestimmt sogar, wer an dem langen
Eßtisch neben ihr sitzen darf. Das macht: Hedi
war schon einmal klinisch tot, zwei Minuten lang, und
was uns erwartet, ist nicht ihr erster Bericht darüber.
Die Fakten: Kurz nach
einer Darm-Operation bekam sie eine Kalziumspritze,
woraufhin ihre Seele durch eine "dunkle Röhre"
entschwebte, immer höher himmelwärts, bis
sie "zwei Dreiecken mit Augen" begegnete und
eine "hohle Stimme" Unverständliches
reden hörte.
Bei diesem Treff mit
dem "Allgott" überkam sie "ein ganz,
ganz wunderbares, herrliches Gefühl", zugleich
aber auch Beklommenheit, denn die Augen in den Dreiecken
blickten sie eher streng als gütig an. "Ich
wurde immer kleiner vor Reue, obwohl ich doch gar keine
große Sünderin war; na ja, jeder macht mal
Dummheiten. Jedenfalls habe ich niemand umgebracht."
Nicht lassen kann sich
Hedwig vor stolzem Erstaunen, daß es ihr "als
einziger" vergönnt war, "so tief in die
Materie einzudringen, viel tiefer als alle, mit denen
die Kübler-Ross* gesprochen hat. Dabei war ich
gar nicht mal sehr katholisch". Als Zugabe berichtet
sie von einem Erlebnis in Florida, wo ihr der Allgott
durch ein aufwendiges Sonnenwunder bedeutete, ein noch
besserer Mensch zu werden.
Die Tischrunde, weit
davon entfernt, auch nur eines ihrer Worte in Zweifel
zu ziehen, klatscht verzückt Beifall. Dann begibt
man sich zu neuerlichem Exerzitium ("Jeder wählt
einen Partner und erzählt ihm, wie sein Tod aussehen
wird, wenn er so weiterlebt wie bisher") ins obere
Stockwerk, während die Sendboten des ORF zu einer
nahen Waldlichtung fahren, um dort alles für die
Ablichtung der letzten Sterbe-Übung vorzubereiten.
Einer läßt sich vertrauensvoll rückwärts
fallen, ein anderer, hinter ihm, bremst den Fall dicht
über dem Waldboden. Diesen allgemeinen Aufbruch
nutzen die Seminaristen Heidi und Martin, den Lehrgang
ihrerseits zu beenden.
Im Januar will Franz
Susman ein Sonderseminar für Wirtschaftsführer
abhalten, wobei ihm das Thema "Management und Familie"
vorschwebt. Mitzubringen sind, wie immer, Hausschuhe,
Regenstiefel, bequeme und einfache Kleidung, ein großes
Saunahandtuch sowie die Erwartung, bei der "Jakobsleiter"
mit Agnes, Helma, Ingrid, Monika, Nortrud und Ursula
konfrontiert zu werden.
Merke: "Schon ein
einziger Tag in dieser Umgebung ist wie ein erfrischendes
Bad" ("Rheinische Post").
* Sterbeforscherin und
Verfasserin des Buches "Interviews mit Sterbenden"
(SPIEGEL-Titel 26/1977).
DER SPIEGEL 42 / 1977