Die
Kuh, die weinte
vom
Vegetarier Bund
Deutschland
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Als
ich einmal etwas früher zum Meditationsunterricht in
die Haftanstalt kam, wartete ein Gefangener auf mich, den
ich zuvor noch nie gesehen hatte. Er war ein Hüne mit
wildem Haar und Bart und jeder Menge Tätowierungen auf
den Armen. Die Narben in seinem Gesicht verrieten mir, dass
er schon so manchen Streit ausgefochten hatte. Er sah so Furcht
erregend aus, dass ich mich fragte, warum ausgerechnet dieser
Kerl das Meditieren erlernen wollte. Er war so gar nicht der
Typ dafür. Aber darin hatte ich mich gründlich geirrt.
Er erzählte mir von einem Vorfall, den er ein paar Tage
zuvor erlebt und der ihn höllisch erschreckt hatte.http://vebu.de/tiere-a-ethik/kuenstlerisches/1379-die-kuh-die-weinte
Mit
starkem irischen Akzent erzählte er mir von seiner Kindheit
in den brennenden Straßen von Belfast. Als Siebenjähriger
war er zum ersten Mal Opfer einer Messerstecherei geworden.
Ein älterer Schüler, ein bekannter Schläger,
forderte ihn auf, das Geld herauszurücken, das er fürs
Mittagessen von zu Hause mitgebracht hatte. Der kleine Junge
weigerte sich. Der Ältere zog ein langes Messer und stellte
die Frage noch einmal. Der Kleine glaubte, dass der andere
nur bluffte und lehnte wieder ab. Ein drittes Mal fragte der
Schläger nicht. Er trieb einfach das Messer in den Arm
des Siebenjährigen, zog es dann wieder heraus und ging
ungerührt davon.
Der
Mann erzählte mir, dass er völlig geschockt das
Schulgelände verließ und zum Haus seines Vaters
in der Nachbarschaft rannte. Blut strömte seinen Arm
hinunter. Sein arbeitsloser Vater sah sich die Wunde kurz
an und ging dann mit seinem Sohn in die Küche. Aber nicht
etwa, um die Wunde zu verarzten. Der Vater zog eine Schublade
auf, ergriff ein großes Küchenmesser, drückte
es seinem Sohn in die Hand und forderte ihn auf, zur Schule
zurückzukehren und damit den anderen Jungen zu stechen.
So war er erzogen worden. Wenn er nicht so groß und
stark geworden wäre, hätte er wahrscheinlich schon
vor langem das Zeitliche gesegnet.
Kühe schauen uns direkt an
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Diese
Haftanstalt war eine Gefängnis-Farm. Häftlinge mit
kurzen Strafen und jene, die nach einer langen Freiheitsstrafe
kurz vor der Entlassung standen, sollten dort auf das Leben
danach vorbereitet werden. Einige erhielten damit die Gelegenheit,
eine landwirtschaftliche Ausbildung zu absolvieren. Außerdem
versorgte die Ernte dieser Farm alle Gefängnisse bei
Perth mit Nahrungsmitteln, wodurch die Kosten niedrig gehalten
werden konnten.
Genau
wie die australischen Bauern, die außer Getreide und
Gemüse auch Kühe, Schafe und Schweine züchten,
hatte sich diese Farm ebenfalls auf all diese landwirtschaftlichen
Tätigkeiten verlegt. Aber im Gegensatz zu den anderen
Farmen, betrieb dieser Gefängnisbauernhof auch seinen
eigenen Schlachthof.
Jeder Häftling musste einen Job auf der Farm übernehmen.
Es war nicht zu übersehen, dass sich die Insassen um
die Arbeit im Schlachthof rissen. Sie war vor allem bei den
gewalttätigen Männern äußerst beliebt,
die besonders gern die Arbeit des Abschlachtens verrichteten.
Um diesen Job musste man regelrecht kämpfen.
Der
Mann beschrieb mir den Schlachthof. Es gab starke Gitter aus
Edelstahl, die am Eingang weit auseinander gesetzt waren,
aber innerhalb des Gebäudes immer näher zusammenliefen,
bis sie so schmal waren, dass nur ein Tier hindurchpasste.
Neben diesem schmalen Gang stand er als Schlachter mit seinem
Bolzenschussgerät auf einem Podest. Kühe, Schweine
oder Schafe wurden mit Hunden und Stöcken in den Edelstahl-Trichter
getrieben. Er berichtete, dass alle Tiere schrien, jedes auf
seine Weise, und jedes versuchte zu flüchten. Die Tiere
rochen den Tod, hörten den Tod, spürten den Tod.
Wenn das Tier an dem Podest angelangt war, krümmte und
wand es sich und stieß laute, klagende Töne aus.
Obwohl ein Schuss aus seinem Bolzenschussgerät einen
riesigen Bullen auf der Stelle hätte töten können,
stand kein Tier so still, dass er auf Anhieb genau zielen
konnte. Also fiel der erste Schuss, um das Tier zu betäuben
und der zweite, um es zu töten. Ein Schuss zur Betäubung,
ein Schuss zur Tötung. Ein Tier nach dem anderen. Jeden
Tag aufs Neue.
Der
Ire wurde ziemlich aufgeregt, denn jetzt wollte er von dem
Vorfall berichten, den er nur wenige Tage zuvor erlebt und
der ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Er begann zu fluchen
und sagte wiederholt: »Es ist die Gott verdammte Wahrheit.«
Er hatte Angst, dass ich ihm nicht glauben würde.
An
jenem Tag brauchten die Gefängnisse nahe Perth Rindfleisch.
Also wurden Kühe geschlachtet. Ein Schuss zur Betäubung,
ein Schuss zur Tötung. Er hatte schon eine große
Anzahl von Tieren erledigt, als eine Kuh auf eine Weise herankam,
wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.
Diese
Kuh war still. Sie schnaufte nicht einmal. Mit gesenktem Kopf
näherte sie sich langsam dem Podest, ohne dass auch nur
der geringste Druck auf sie ausgeübt werden musste. Am
Ziel blieb sie ganz ruhig stehen. Sie tobte nicht, wand sich
nicht, brüllte nicht und versuchte auch nicht zu flüchten.
Auf einmal hob sie langsam den Kopf und starrte ihren Henker
bewegungslos an.
Der
Ire hatte so etwas noch nie erlebt. Er war vollkommen verwirrt,
konnte weder sein Bolzenschussgerät auf die Kuh richten
noch ihrem Blick ausweichen. Die Kuh schien direkt in sein
Innerstes hineinzuschauen. Zeit und Raum waren für ihn
verschwunden. Er konnte mir nicht sagen, wie lange die Kuh
diesen Blickkontakt aufrechterhielt, aber dann entdeckte er
etwas, das ihn weitaus mehr erschütterte.
Im
linken Auge der Kuh, oberhalb des unteren Augenlids, begann
sich Wasser zu sammeln. Es wurde immer mehr. Irgendwann lief
das Auge über und das Wasser tröpfelte heraus, rollte
langsam über ihre Wange und bildete eine glitzernde Tränenkette.
Längst verschlossene Türen begannen sich in seinem
Herzen zu öffnen. Ungläubig beobachtete er, dass
jetzt auch das rechte Auge der Kuh nass wurde und sich dort
so viel Wasser ansammelte, dass bald darauf ein zweiter Tränenstrom
floss.
Die
Kuh weinte. Da brach der Mann zusammen.
Er
sagte mir, dass er sein Bolzenschussgerät auf den Boden
geworfen und den Wachen fluchend zugebrüllt hatte, dass
sie mit ihm tun könnten, was sie wollten, »ABER
DIESE KUH WIRD NICHT STERBEN!«
Er
sagte mir, dass er jetzt Vegetarier sei.
Die
Geschichte stimmte. Andere Häftlinge der Gefängnis-Farm
bezeugten sie mir gegenüber. Die Kuh, die weinte, hatte
einem der gewalttätigsten Männer gezeigt, was »mitfühlen«
bedeutet.
Ajahn
Brahm (Autor), übersetzt von Martina Kempff
Ajahn Brahm
- Die Kuh, die weinte
Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück
Lotos Verlag 2009, 239 Seiten, 14,95 €
ISBN 978-3-7787-8183-8
Copyright
C 2004 by Ajahn Brahm
Copyright C 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Lotos Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die
englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel "Opening
the Door of Your Heart" im Verlag Thomas C. Lothian Pty.
Ltd., South Melbourne, Australien.
Bildquelle
Kuh: flickr: Florian Seiffert
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