Tolstois Besuch
im Schlachthaus von Tula

Franz Susman (Professor für katholische Kirchengeschichte)
aus seinem Buch: Und die Erde wird neu erblühen
"Tolstois Perestroika"
- Der erste Schritt zum Frieden ist nun möglich


Wenn man Fleisch isst, muss man auch sehen, wie man schlachtet 

Regenbogen-Linie

Leonid Tolstoi

"An einem Freitag begab ich mich nach Tula. Ich begegnete einem guten, vernünftigen Menschen, der mir bekannt war, und ich bat ihn, mich zu begleiten. `Ja, ich habe gehört, das sei alles gut eingerichtet, und ich wollte es auch sehen, aber wenn man heute schlachtet, gehe ich nicht hin.` `Warum nicht? Das will ich ja eben sehen. Wenn man Fleisch isst, muss man auch sehen, wie man schlachtet.`
"Nein, nein, ich kann nicht!" rief er. Und dabei ist dieser Mensch ein Jäger und tötet selbst.

Wir kamen ans Schlachthaus. Am Eingang bemerkte man schon einen unangenehmen, widerlichen, fauligen Geruch, wie nach Tierleichen. Je weiter wir kamen, desto stärker wurde dieser Geruch. Das Schlachthaus war ein sehr großes, gewölbtes Backsteingebäude mit hohen Schornsteinen. Wir traten durch die große Pforte ein. Rechts war ein großer Hof, mit einer Hecke umgeben, etwa ¼ Hektar groß.

Das war der Ort, wo man an zwei Tagen der Woche das verkaufte Vieh zusammentrieb. Am Ende des Hofes befand sich das Häuschen des Pförtners. Zur Linken standen zwei Schuppen mit Spitzbogentüren, der Fußboden war mit Asphalt bedeckt und bildete einen Eselsrücken. Besondere Anstalten waren getroffen, um die getöteten Tiere aufzuhängen.

Vor dem Wächterhaus zur Rechten saßen auf einer Bank sechs Fleischer mit blutbefleckten Schürzen, die gleichfalls blutigen Hemdsärmel waren unten umgeschlagen und man konnte ihre muskulösen Arme sehen. Seit einer halben Stunde war ihre Arbeit beendet, sodass wir an diesem Tag nur den leeren Schuppen sehen konnten. Obgleich die Türen von beiden Seiten offen waren, empfand man doch einen faden Geruch nach warmen Blut. Der Fußboden war noch ganz braun glänzend und in den Kanälen des Fußbodens lag geronnenes Blut.
Einer der Fleischer erklärte uns, wie man schlachtet und zeigte uns den Ort, wo das geschah. Ich habe ihn nicht gut begriffen und machte mir eine falsche, aber schreckliche Vorstellung vom Schlachten. Ich glaubte, wie das oft vorkommt, dass die Wirklichkeit einen weniger peinlichen Eindruck auf mich machen werde als meine Fantasie. Aber das war ein Irrtum.
Das nächste Mal kam ich zur rechten Zeit ins Schlachthaus. Es war an einem Freitag vor Pfingsten, an einem warmen Junitag. Der Geruch nach Leim und nach Blut war stärker als beim ersten Besuch. Die Arbeit war in vollem Gange. Der kleine staubige Hof stand voll von Tieren und auch in dem Schuppen nahe dem Schlachthaus befanden sich andere Tiere.

Auf der Straße standen Karren, an welche Ochsen, Kälber und Kühe angebunden waren. Gut bespannte Wagen, auf denen lebende Kälber mit hängenden Köpfen lagen, kamen näher und wurden abgeladen. Andere Wagen mit geschlachteten Ochsen, deren Beine in die Höhe ragten und den Bewegungen des Wagens folgten, mit ihren regungslosen Körpern, roter Lunge und brauner Leber kamen aus dem Schlachthaus heraus. Bei der Hecke standen die Reitpferde, die den Viehhändlern gehörten. Diese gingen, in ihren langen Röcken mit der Peitsche in der Hand, im Hof hin und her und bezeichneten mit Teer die ihnen gehörenden Tiere. Sie handelten über die Preise und überwachten den Transport der Tiere vom Park in den Schuppen und vom Schuppen in das Schlachthaus.
Alle waren sichtlich mit Geldfragen beschäftigt, und der Gedanke, ob es gut oder böse sei, diese Tiere zu töten, lag so fern, wie der an die chemische Zusammensetzung des Blutes, das auf dem Boden umherlief.
Man bemerkte keine Schlächter auf dem Hof. Sie waren alle bei der Arbeit. An diesem Tag wurden etwa hundert Ochsen geschlachtet. Ich trat in das Schlachthaus und blieb an der Tür stehen. Dort blieb ich, weil das Innere sehr beengt war, wegen der Tiere, die man hereinführte, und auch, weil das Blut von oben herabtropfte und alle Schlächter bespritzte. Wenn ich eingetreten wäre, so wäre ich auch damit bespritzt worden.

Ein Tier wurde vom Haken herabgenommen, ein anderes wurde auf den Schienen fortgeschoben, ein drittes, ein geschlachteter Ochse, lag mit den Beinen in die Höhe auf dem Fußboden, und der Schlächter zog die Haut ab. Durch die Tür, gegenüber der, an der ich mich befand, führte man einen großen, fetten Ochsen.

Zwei Männer zogen ihn herein. Er hatte kaum die Schwelle überschritten, als einer der Schlächter mit einer Axt mit einem langen Stiel den Ochsen über dem Hals traf. Als ob seine vier Füße zur gleichen Zeit abgeschnitten worden wären, fiel der Ochse schwerfällig auf den Bauch, dann drehte er sich sogleich auf die Seite und zuckte krampfhaft mit den Beinen und an den Hüften. Dann stürzte sich ein Schlächter auf ihn, indem er vorsichtig die Beine vermied, ergriff ihn an den Hörnern, drückte gewaltsam seinen Kopf zu Boden, während ein anderer Schlächter ihm die Kehle abschnitt. Aus der klaffenden Wunde floss das dunkelrote Blut wie ein Springbrunnen. Dieses wurde in einem Metallgefäß von einem ganz mit Blut bedeckten Knaben aufgefangen. Während der ganzen Zeit hatte der Ochse sich beständig gedreht und den Kopf geschüttelt und krampfhaft mit den Beinen um sich geschlagen. Indessen füllte sich das Gefäß rasch mit Blut, aber der Ochse war noch lebendig und schlug mit den Beinen um sich, sodass die Schlächter sich vorsichtig beiseite hielten. Sobald aber das Metallgefäß voll war, stellte es der kleine Junge auf den Kopf und trug es in die Albuminfabrik, während ein anderer Knabe ein neues Gefäß herbeibrachte, dass sich auch sehr rasch füllte.

Aber der Ochse schlug immer verzweifelter um sich. Sobald das Blut zu fließen aufhörte, hob der Schlächter den Kopf des Ochsen auf und begann, die Haut abzuziehen. Das Tier schlug noch immer um sich. Der Kopf war ganz entblößt und ganz rot mit weißen Adern und nahm die Stellung an, die ihm die Schlächter gaben. Die Haut hing von beiden Seiten herab. Der Ochse schlug beständig um sich. Dann ergriff ein anderer Schlächter den Ochsen am Bein, zerbrach es und schnitt es ab. Auf dem Bauch liegend dauerten noch die krampfartigen Zuckungen an. Dann schnitt man ihm die übrigen Glieder ab und warf sie alle auf einen Haufen, wo die Beine der anderen Ochsen desselben Besitzers lagen. Darauf zog man das geschlachtete Tier zur Rolle und zog es in die Höhe. Dann erst gab das Tier kein Lebenszeichen mehr von sich.

Das sah ich von der Pforte aus. So sah ich auch, wie ein zweiter, ein dritter und ein vierter Ochse geschlachtet wurde, und bei allen verfuhr man auf die gleiche Weise. Immer sah ich den herabhängenden Kopf mit der Zunge, in die sich die Zähne einbissen, und das letzte Zucken. Ein Unterschied trat nur ein, wen der Schlächter nicht auf den ersten Schlag die richtige Stelle traf, sodass das Tier nicht gleich niederstürzte.
Es kam vor, dass der Schläger die Stelle verfehlte, und der Ochse sich aufbäumte, brüllte und sich blutüberströmt den Händen der Schlächter zu entreißen suchte. Dann zog man ihn unter den Balken - man schlug ihn nochmals, und er stürzte.

Ich ging durch das Schlachthaus und näherte mich der gegenüberliegenden Tür, durch die die Tiere hereinkamen. Hier sah ich dasselbe näher und deutlicher. Ich sah, was ich vorher von der anderen Tür aus nicht sehen konnte, nämlich das Mittel, womit man die Tiere nötigte, hereinzukommen. Wenn man einen Ochsen im Schuppen ergriff und ihn mit einem an die Hörner gebunden Strick hereinzog, so wurde der Ochse zuweilen, wenn er das Blut roch, störrisch, brüllte und drängte rückwärts. Zwei Männer hätten ihn nicht mit Gewalt hereinziehen können. Deshalb trat einer der Schlächter näher, ergriff den Schwanz des Ochsen und drehte ihn bis er ihm den Knorpel brach, dann ging das Tier vorwärts.

Als das Schlachten des Ochsen eines Besitzers zu Ende war, begann man mit derselben Arbeit für einen anderen. Das erste Tier dieser neuen Herde war ein junger starker Stier mit weißen Flecken und ganz weißen Beinen, ein junges kräftiges wildes Tier. Man zog den Strick, aber er senkte den Kopf und blieb hartnäckig stehen. Aber der Schlächter, der hinter ihm ging, ergriff wie ein Maschinist, der nach dem Handgriff des Blasebalges greift, den Schwanz, drehte ihn, der Knorpel krachte, und der Stier stürzte vorwärts. Dieses Mal befand er sich an der richtigen Stelle. Der Schläger näherte sich, zielte und schlug. Der Schlag traf schlecht. Der Stier machte einen Satz, schüttelte heftig den Kopf, brüllte, riss sich ganz blutend los und stürzte nach rückwärts. Alle, die sich an der Tür befanden, liefen rasch zur Seite. Aber die Schlächter waren daran gewöhnt. Mit der durch die Gefahr erworbenen Bravour ergriffen sie rasch den Strick, dann wurde der Schwanz wieder gedreht und von neuem stand der Stier im Schlachthaus. Man zog den Kopf unter den Querbalken, so dass es ihm nicht möglich war zu entfliehen. Der Schläger zielte rasch auf die Stelle, wo die Haare sich strahlenförmig trennten, und trotz des Blutes traf er sie, und das schöne, lebensvolle Tier stürzte nieder, schlug mit dem Kopf und den Beinen um sich, während man das Blut auffing und ihm die Haut abzog.

`Ach, zum Teufel, er ist nicht einmal da gefallen, wo er sollte!` brummte der Fleischer, indem er die Kopfhaut abschnitt.
Fünf Minuten später war der schwarze Kopf rot, ohne Haut, die Augen verglast; dieselben Augen, die kaum fünf Minuten in so schöner Farbe glänzten.

Dann begab ich mich an den Ort, wo man die kleinen Tiere schlachtete. Das war ein sehr großer Raum, dessen Fußboden mit Asphalt bedeckt war; darin standen Tische mit Randleisten, auf welchen man Lämmer und Kälber schlachtete. Die Arbeit hier in dem langen Raum voll Blutgeruch war beendet, nur zwei Schlächter befanden sich hier. Der eine blies das Bein eines geschlachteten Lammes auf und rieb mit der Hand den aufgetriebenen Bauch des Tieres, der andere, ein junger Bursche, saß mit blutbefleckter Schürze und rauchte eine Zigarette.

Ein Mann trat hinter mir ein, der aussah wie ein verabschiedeter Soldat, und brachte ein großes eintägiges, schwarzes Lamm mit einem Zeichen am Hals und zusammengebundenen Beinen und legte es auf einen Tisch wie auf ein Bett. Der Soldat war augenscheinlich an diesem Ort bekannt und sagte: 'Guten Tag!' dann begann er sein Gespräch über einen Urlaub, den er vom Meister erbitten wollte. Der junge Bursche mit der Zigarette trat näher, mit dem Messer in der Hand, wetzte es am Ende der Schlachtbank und bemerkte, man habe Urlaub an den Ferientagen. Das lebende Lamm blieb ebenso unbeweglich wie das tote, aufgeblasene, nur mit dem Unterschied, dass es lebhaft seinen kleinen kurzen Schweif bewegte und die Flanken sich rascher hoben als gewöhnlich. Der Soldat stützte ohne Anstrengungen den Kopf des Tieres gegen den Tisch. Der junge Schlächter ergriff, während er sprach, mit der linken Hand den Kopf des Lammes und schnitt ihm die Kehle durch. Das Lamm warf sich hin und her, sein kleiner Schweif hörte endlich auf sich zu bewegen. Während das Blut ausfloss, zündete der Schlächter seine Zigarette wieder an. Das Blut floss, das Lamm warf sich wieder hin und her. Inzwischen wurde das Gespräch ohne Unterbrechung fortgesetzt.

"Was will ich beweisen?" fragte Tolstoi, "vielleicht, dass die Menschen, um gut zu werden das Fleischessen aufgeben müssen? Keineswegs. Ich will nur zeigen, dass es notwendig ist, nach und nach die nötigen Eigenschaften zu erwerben, wenn man zu einem moralischen Leben gelangen will, und dass diejenige Tugend, die man vor allen anderen erlangen muss, die Mäßigkeit ist, und der Wille, seine Leidenschaften zu beherrschen. Beim Streben nach der Enthaltsamkeit muss der Mensch notwendigerweise eine gewisse bestimmte Ordnung befolgen und in dieser Ordnung ist die erste Tugend - Mäßigkeit in der Nahrung, das heißt ein relatives Fasten. Und wenn der Mensch ernst und aufrichtig den moralischen Weg sucht, so ist das erste, was er aufgeben muss, die Fleischnahrung, denn außer der Anregung der Leidenschaften infolge dieser Nahrung, ist sie auch ganz einfach unmoralisch, weil sie eine dem Gefühl der Moralität widersprechende Tat - den Mord - erfordert, und weil sie nur von der Feinschmeckerei und der Gefräßigkeit verlangt wird."

Aus: Franz Susman (Professor für katholische Kirchengeschichte)
"Tolstois Perestroika" - Der erste Schritt zum Frieden ist nun möglich; Tobias Verlag 1989


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